Wenn einer fortgeht, muß er den Hut
mit den Muscheln, die er sommerüber
gesammelt hat, ins Meer werfen
und fahren mit wehendem Haar,
er muß den Tisch, den er seiner Liebe
deckte, ins Meer stürzen,
er muß den Rest des Weins,
der im Glas blieb, ins Meer schütten,
er muß den Fischen sein Brot geben
und einen Tropfen Blut ins Meer mischen,
er muß sein Messer gut in die Wellen treiben
und seinen Schuh versenken,
Herz, Anker und Kreuz,
und fahren mit wehendem Haar!
Dann wird er wiederkommen.
Wann?
Frag nicht.
- Ingeborg Bachmann (Lieder von einer Insel, 1954)
denn die wahren Paradiese sind jene, die man verloren hat
leben und die Essenz der Dinge genießen
Zu oft hatte ich die Unmöglichkeit erfahren, in der Wirklichkeit das zu erfassen, was tief in mir lag
Die auszudrückende Wirklichkeit lag nicht, wie ich inzwischen begriff, in der Erscheinung des Gegenstandes, sondern in einer Tiefe, in der diese Erscheinung wenig Bedeutung hatte
Das wahre Leben, das endlich entdeckte und ans Licht gebrachte Leben, das folglich einzige voll und ganz gelebte Leben, ist die Literatur.
Nur mittels der Kunst können wir aus uns heraustreten, erfahren, was ein anderer von diesem Universum sieht, das für ihn nicht das gleiche ist wie für uns und dessen Landschaften uns sonst ebenso unbekannt blieben wie jene, die es auf dem Mond geben mag. Dank der Kunst sehen wir statt nur einer Welt, der unseren, eine Vielzahl, und wir haben so viele Welten zu unserer Verfügung, wie es eigenständige Künstler gibt, Welten, die sich voneinander stärker unterscheiden als jene, die im Unendlichen kreisen und die uns ihren je eigenen Lichtstrahl noch viele Jahrhunderte lang zusenden, nachdem das Feuer, von dem er ausging, erlosch, ob es nun Rembrandt hieß oder Vermeer.
denn so kurz unser Leben auch währen mag, so geschieht es doch nur, während wir leiden, dass unsere in gewisser Weise von ständig vorhandenen, wechselhaften Bewegungen erregten Gedanken wie in einem Sturm diese ganze von Gesetzen durchwaltete Weite auf ein Niveau hinaufsteigen lassen, von dem aus wir sie überblicken können, auf die wir, an einem ungünstig plazierten Fenster postiert, sonst keinen Ausblick haben, denn die Windstille des Glücks lässt sie glatt und auf einem zu niedrigen Niveau ruhen
Da, wo das Leben eine Mauer um uns zieht, schafft der Verstand einen Ausgang, denn wenn es auch für eine unerwiderte Liebe kein Heilmittel gibt, so öffnet doch die Diagnose des Leidens einen Ausweg, sei es auch nur, indem man die Konsequenzen zieht, die sie zur Folge hat. Der Verstand kennt die unüberwindbaren Situationen eines ausweglosen Daseins nicht.
Vielleicht weil diese unvorhergesehenen Situationen uns nötigen, tiefer mit uns selbst in Kontakt zu treten, belehren uns die schmerzlichen Konflikte, mit denen uns die Liebe andauernd konfrontiert, über den Stoff, aus dem wir gemacht sind, und führen nach und nach zu seiner Entdeckung.
In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, der eigentliche Leser seiner selbst.
Und nunmehr verstand ich, was das Alter war – das Alter, das von allen Realitäten vielleicht jene ist, von der wir in unserem Leben am längsten eine völlig abstrakte Vorstellung behalten, während wir auf den Kalender sehen, unsere Briefe datieren, miterleben, wie unsere Freunde heiraten, die Kinder unserer Freunde heiraten, ohne zu begreifen, sei es aus Angst, sei es aus Trägheit, was das bedeutet, bis zu jenem Tag, an dem wir eine unbekannte Gestalt sehen, wie etwa die von Monsieur d’Argencourt, die uns lehrt, dass wir in einer neuen Welt leben; bis zu dem Tag, an dem der Enkel einer unserer Freundinnen, ein junger Mann, den wir instinktiv wie einen Kameraden behandeln, lächelt, als wollten wir uns über ihn lustig machen, wir, die wir ihm vorgekommen sind wie ein Großvater; ich verstand, was der Tod, die Liebe, die Freuden des Geistes, der Nutzen des Leidens, die Berufung usw. bedeuteten.
indem das Gedächtnis die Vergangenheit so, wie sie war, als sie Gegenwart war, in die Gegenwart einfügt, ohne diese zu verändern, bringt es gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der sich das Leben verwirklicht.
unsere größten Ängste wie auch unsere größten Hoffnungen gehen nicht über unsere Kräfte, und wir können schließlich dazu kommen, die einen zu beherrschen und die anderen zu verwirklichen.
Der Körper schließt den Geist in eine Festung ein; schon bald wird die Festung von allen Seiten belagert, und schließlich muss der Geist sich ergeben.
weil das Glücksgefühl, das ich erlebt hatte, nicht nur aus einer gänzlich subjektiven Überreizung der Nerven stammte, die uns von der Vergangenheit trennt, sondern im Gegenteil aus einer Ausweitung meines Geistes
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei!
14492 Verse später...
Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in äonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick.
Darum...
Greift nur hinein ins volle Menschenleben!
Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,
Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.
Denn...
Dasein ist Pflicht,
und wär's ein Augenblick.
Also...
[...] lies Goethes «Faust» - da ist Nahrung für jeden denkenden und empfindenden Menschen, der noch mehr erstrebt als das Zwei mal Zwei ist Vier der hausbackenen Alltäglichkeit. (Rudolf Steiner)